Oleg.
Oleg ist alt und krank. Kaum tragen ihn die Beine und manchmal kann er gar nicht mehr aufstehen. Seine sonst so wachen Augen glänzen schon länger nicht mehr und die Geräuschkulisse der Großstadt liegt mit Sicherheit nicht mehr in seinem Empfangsbereich. Ob der Bordercollie-Mischling seine Schmerzen spürt, ob er ahnt, dass es bald wieder fressen gibt oder dass der eher mühsam gewordene Spaziergang auf dem Hof in einer Stunde wieder ansteht, kann niemand sagen.
…vor 17 Jahren in einem Müllkorb eines Supermarktes vor den Toren Moskaus gefunden hat…
Frau Daum hat den Eindruck, dass Oleg in einer Art „Nebel“ lebt. Sie schaut hilflos und weiß, dass sie nicht loslassen kann. Frau Daum beißt sich auf die Lippen um ihre Tränen wegzudrücken. Olegs Probleme sind ganz offenbar, nicht nur für den Tierarzt. Die Probleme von Frau Daum sind es nicht ganz so. Sie erzählt mit leiser Stimme, dass sie Oleg vor 17 Jahren in einem Müllkorb eines Supermarktes vor den Toren Moskaus gefunden hat. Ein Welpe, der hilflos vor sich hinwimmerte, etwas fressbares suchte, fürchterlich verfilzt war und stank. Seit 17 Jahren begleitet Oleg nun schon Frau Daum. Ein wahrhaft biblisches Alter.
Sie hat sich ihren Hund zum Partner gemacht
Durch 3 Länder sind die beiden gereist, durch 2 Ehen, 5 Wohnungen und durch eine ganze Welt aus Erfahrungen. Viel hat sie verloren, neues hinzugewonnen, für immer geglaubtes wieder abgeben müssen. Nur Oleg ist immer bei ihr geblieben, hat ihr in schweren Zeiten zugehört und in guten Zeiten die Freude mit ihr geteilt. Frau Daum hat ihren Oleg zu dem gemacht, wofür Menschen in der Stadt manchmal belächelt werden: Sie hat sich ihren Hund zum Partner gemacht, hat in ihm die Sicherheit gefunden, die sie sonst bei niemandem gefunden hat. Sie hat Oleg zu ihrem Vertrauten gemacht, zu ihrem Schützling, zu ihrer Verantwortung. Ob Oleg das wollte oder nicht, kann niemand sagen. Was aber sicher gesagt werden kann: Oleg hat das alles genossen.
Er hat sich unbändig gefreut, wenn Frauchen nach einem Einkauf wieder nach Hause kam. Oleg lag still und genießerisch auf seiner Decke, wenn Frauchen ihn gekämmt oder gekrault hat. Er hat ihr die Hände vor Übermut geleckt und seine Schnauze zwischen ihre Beine gesteckt um ja ganz nah bei ihr zu sein. Und wenn Frau Daum zu wenig auf seine Bedürfnisse reagiert hat, dann nahm er seine Pfote zu Hilfe und hat an ihr gekratzt. Doch davon ist wenig geblieben und Frau Daum hat diesen schleichenden Prozess des Verfalls ignoriert – lange ignorieren können.
Oleg muss umgehend eingeschläfert werden
Jetzt stehen zwei Herren vom Veterinär- und Lebensmittelamt in ihrer Tür und verlangen, dass Oleg untersucht wird. Frau Daum wurde angezeigt. Jemand aus dem Haus empfand als Tierquälerei, was Frau Daum tut. Einen Hund in diesem Zustand lässt man nicht länger leiden. Frau Daum ist etwas überrumpelt. Damit hat sie nicht gerechnet. Sie lässt die beiden Herren in die Wohnung, die sich kurz um das Tier kümmern und dann feststellen, dass Oleg umgehend eingeschläfert werden muss.
Frau Daum ist erst einmal sprachlos. Als sie ihre Sprache wieder findet, sagt sie nur „Nein.“ Ein schlichtes Nein, ein standhaftes Nein. Es wird gedroht, das Tierschutzgesetz zitiert. Dann sind die Herren weg – nicht ohne erwähnt zu haben, dass sie wiederkommen, um Oleg zu holen. Für eine Weile ist es still hinter der wieder geschlossenen Tür. Nur Oleg brummt etwas vor sich hin, als würde ihn das alles gar nichts angehen.
Frau Daum greift zum Telefon und erzählt die Geschichte einer Freundin. Die Freundin ist außer sich und ruft sofort eine Bekannte an… Zwei Stunden später klingelt bei Frau Daum das Telefon. Sie hat Angst abzunehmen, überwindet sich dann aber doch. Eine freundliche Stimme meldet sich und sagt, sie sei Reporterin und möchte die Geschichte in die Zeitung bringen, wenn sie denn stimmt, wie es ihr erzählt wurde.
Frau Daum sagt, dass ihr geraten wurde ein unabhängiges Gutachten einzuholen…
Wenig später werde ich angerufen. Frau Daum sagt, dass ihr geraten wurde ein unabhängiges Gutachten einzuholen, von einem Tierarzt. Ihre Stimme wirkt unsicher. So, als könne sie unmöglich selbst auf den Gedanken kommen, gerade die Art von Menschen ins Haus zu holen, die ihren Oleg umbringen möchten. Es wurde ihr empfohlen. Frau Daum möchte ein Bollwerk aufbauen, gegen die Eindringlinge, die ihr wegnehmen wollen, was in den letzten 17 Jahren mehr als nur ihr Begleiter gewesen war, mehr als nur der Vertraute, der Zuhörer, derjenige, der nie Leid, immer nur Freude in ihr Leben gebracht hat und der sie aus jeder Tiefe ihres Lebens wieder ans Licht beförderte.
Aber wem kann sie das alles erzählen? Die Zeitungsreporterin war freundlich. Sie hat sich alles angehört, hat ab und zu den Kopf geschüttelt und unermüdlich mitgeschrieben. Morgen schon soll der Artikel erscheinen. Als ich in die Wohnung eintrete, schaut mich Frau Daum skeptisch an: Soll sie mich hereinlassen. Kann sie den Feind an ihren Oleg lassen? Was, wenn dieser Tierarzt plötzlich eine Spritze zückt. Was kann Frau Daum dann machen – außer vielleicht schreien und um Hilfe rufen? Aber was würde es ihr nutzen?
Frau Daum kann Oleg nicht loslassen. Natürlich weiß sie, dass es ihm schlecht geht. Aber schläfert man jedes Tier ein, dem es schlecht geht? Das macht man doch mit Menschen auch nicht. Ihre Stimme zittert leicht. Irgendwie spüre ich, was in Frau Daum vorgeht. Ihre Angst ist in ihren Augen, in ihrer Gestik und in dem was sie sagt und was sie nicht sagt. Nur Oleg scheint von allem unberührt.
Aber was, wenn wir ihn zu früh gehen lassen?
Ich versuche Frau Daum die Angst zu nehmen und untersuche ihren Hund von dem sie sich nicht trennen kann. Natürlich weiß sie um die Endlichkeit eines Lebens. Ihre Mutter starb und Ihr Vater. Niemand kann den letzten Atemzug aufhalten und in die Unvergänglichkeit überführen. Auch Frau Daum hat sich schon oft, viele Nächte, viele Tage damit beschäftigt. Aber sie ist zu keinem Ergebnis gekommen. Das schlimmste sind die Zweifel, sagt sie. Ich möchte ihn nicht leiden lassen, ich kann ihn nicht leiden sehen. Aber was, wenn wir ihn zu früh gehen lassen? Ich könnte mir das nie verzeihen. Es würde mich mein Leben lang begleiten, den ganzen Rest meines Lebens. Und wieder bricht ihre Stimme. Die Tränen kann sie nicht mehr zurückhalten. Sie rinnen lautlos über ihre Wangen, deren Muskeln leicht zittern. Ihre Hand gleitet kraftlos und geräuschlos über das noch so sanfte graubraune Fell ihres Oleg.
Ich lege mein Stethoskop zur Seite und lege ebenfalls eine Hand auf den Rücken des Hundes. Einen Moment schweigen wir beide. Langsam packe ich meine Sachen zusammen. „Frisst und trinkt Oleg?“ Auf meine Frage lächelt Frau Daum durch die feuchten Augen. Sie nickt. „Wie ein Scheunendrescher“, sagt sie mit einem gewissen Stolz. „Wissen Sie, Herr Doktor, ich brauche jemanden der mir hilft. Jemanden, der mir ehrlich sagt, wann es überhaupt keinen Sinn mehr macht. Ich möchte ihn doch nicht quälen. Aber ich möchte auch nicht getrieben werden.
Ich bin egoistisch, ja. Aber sind diese Leute nicht roh?
Diese Leute, die vom Tod reden als wäre es ein Stein, den es im See zu versenken gilt. Was ist das? Ich bin egoistisch, ja. Aber sind diese Leute nicht roh?“ „Wir werden den richtigen Zeitpunkt finden.“ Sage ich mit dem Unterton der Gewissheit und drücke ihr ein starkes Schmerzmittel in die Hand. „Es gibt nicht viel, was wir machen können. Aber das, was wir tun können, werden wir auch machen. Geben Sie davon jeweils eine Tablette zweimal täglich. Im Bedarfsfall auch dreimal täglich. Und rufen Sie mich an, wenn Sie Hilfe brauchen.“ Frau Daum nimmt meine Hand. „Danke.“ Aber an ihren Augen sieht man, dass sie schon wieder bei ihrem Oleg ist.
Zwei Tage später nimmt Frau Daum einen Brief aus dem Kasten. Er kommt vom Amtsgericht. Nun wird es einen Prozess zwischen ihr und dem Veterinär- und Lebensmittelamt geben. Es soll um den Tod von Oleg gestritten werden. Sie überfliegt mechanisch ungerührt die Zeilen und lässt das Schreiben sinken. Inzwischen ist auch der Artikel in der Zeitung erschienen. Es gab hunderte Mails. Das Telefon klingelte. Die ersten Anrufe hatte sie entgegengenommen. Dann hat sie nicht mehr abgehoben.
Einige beschimpften sie derb als Tierquälerin, als Egoistin… Andere stachelten sie auf, sich das nicht gefallen zu lassen. Es waren auch Anwälte dabei. Eine Welle der Unterstützung schwappte über sie. Doch sie empfand kein Wohlwollen, keine Genugtuung. Frau Daum wollte eigentlich nur ihren Oleg beim Sterben begleiten, nicht im Mittelpunkt einer solchen Kampagne stehen, die mit einer ungeahnten Wucht über sie hineinbrach, die etwas unkalkulierbares, etwas unvorhergesehenes, etwas nicht zu überschauendes hatte. Nur Oleg liegt auf seiner alten Decke und schläft. Ihn geht das alles nichts an.
Es hat sich eine gewisse Trauer über die Wohnung der Daums gesetzt. Aus der Trauer, auf die ein Trotz folgte, ist wieder Angst und Trauer geworden. Oleg hat seit zwei Tagen kaum mehr gefressen. Sein Leberwursthäppchen nimmt er zaghaft, lässt es wieder aus dem Maul fallen, schaut verwirrt. Frau Daum hält das gleiche Häppchen unermüdlich hin. Sie ist allein mit ihrem alten Hund, kniet vor ihm. Die Wohnung ist jetzt dunkel, denn die Tage sind jetzt schon um 19 Uhr zu Ende. Der Herbst bläst das Laub des Jahres zusammen. Oleg mochte diese Zeit. Der Sommer schien ihm zu heiß, der Winter zu kalt. Frühjahr und Herbst. Da war er selbst im Alter nicht wiederzuerkennen, tobte, spielte, rannte auch jüngeren Hunden davon…
„Jetzt“ sagt sie, „bin ich wieder allein.“
Frau Daum weiß, dass sie dieses Jahr zu Weihnachten keinen Hundekauknochen in Geschenkpapier einwickeln muss. Etwas, wofür sie von ihren engsten Freundinnen immer belächelt wurde. Auch dieses Stück Leberwurstbrot hat Oleg wieder aus dem Maul fallen lassen. „Jetzt“ sagt sie, „bin ich wieder allein.“ Ihre Hand tastet sich zum Handy in ihrer Tasche. Ihre Finger gleiten auf der Tastatur bis zum Buchstaben „T“. „Tierärzte im Notdienst“ melde ich mich, „Doktor Willitzkat.“ Auf der anderen Seite bleibt es stumm. Ein leises Schluchzen ist zu hören. Ich erkenne die Nummer. Und ich erkenne das Schluchzen. „Ich komme“ sage ich leise und lege auf, um meine Jacke überzuziehen und meine Notfallkoffer zu greifen. Als ich zum Auto gehe, wehen mir einige gelbe Blätter vor die Füße und die Feuchte eines schönen Herbstabends legt sich auf alles, was uns umgibt.
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