BODO.

Es ist früh, kurz vor drei Uhr. Als das Telefon klingelt weiß ich nicht genau ob es schon dämmert oder noch ein winziges Stück Tageslicht ist, kein Zeitgefühl in der Phase des „Aus-Dem-Schlaf-Gerissen-Werdens“. Eine etwas harte Frauenstimme fragt nach Hilfe. Ihr Rüde wurde vor drei Tagen kastriert, hat jetzt einen extrem geschwollenen Hodensack und kann kaum noch laufen. Sie wirkt etwas unsicher, fahrig… und müde. Vielleicht ist sie im Zweifel einen Tierarzt in der Nacht holen zu müssen.

Augen auf bei der Berufswahl

Sie gibt mir die genaue Adresse durch. Etwa 35 bis 40 Minuten brauche ich nach Falkensee, sage ich und schaue auf die Uhr. Bis gleich. Kurz bevor ich auflegen will, höre ich ein „Moment, noch bitte.“ „Ja.“ Die Hundebesitzerin druckst herum. „Ich muss ihnen noch sagen, dass Bodo 95 kg wiegt.“

Ich stutze: 95 kg? Ich dachte ein Hund?! Großtiere machen wir nicht, nur Hunde, Katzen, Vögel, Reptilien… Aus versicherungstechnischen Gründen. Für die Haftpflichtversicherung von Großtieren müssten wir 2 bis 3 Tausend Euro mehr im Jahr zahlen. Das lohnt sich für uns nicht – zu wenige Fälle im Jahr. „Die Mutter war eine Dogge und der Vater ein Mastiff“ sagt sie noch. „Aha“ antworte ich, eher um mir eine Verschnaufpause zu gönnen, als eine wohlüberlegte Antwort zu geben. „Und ich muss ihnen noch etwas sagen“ schiebt sie weiter ein „Bodo ist manchmal nicht ganz nett…“ Das lässt sie so stehen und scheint erleichtert, es gesagt zu haben. Ich denke an den blöden Spruch eines Kommilitonen „Augen auf bei der Berufswahl“. Den Spruch fand ich immer blöd. Jetzt passt er, finde ich.

Er wiegt 20 kg mehr als ich

Ab sofort habe ich etwa 40 Minuten Zeit, mich vorzubereiten, seelisch, moralisch und notfalltechnisch.“ Ich kann nur hoffen, dass mich Bodo ernst nimmt, dass er Respekt hat. Auch Angst wäre mir lieb. Unangenehm wäre, wenn Bodo denkt, ich will ihm etwas Böses und entsprechend reagiert. Im Kopf rollen Strategien umher: 95 kg nicht ganz netter Hund… Ein hungriges Wolfrudel wäre mir vielleicht lieber.  Da könnte ich mir das Leittier vornehmen und der Fall wäre geritzt. Das habe ich jedenfalls so mal gehört.

Während der Fahrt: Mein Problem mit Bodo, denke ich, ist doch nur, dass er 20 kg mehr wiegt als ich, mit Sicherheit eine etwa dreifach so große Maulöffnung besitzt und auch was sich im Maul befindet, als durchaus besser bewaffnet gelten dürfte. Da fällt mir ein, dass ich mal wieder zum Zahnarzt müsste, damit meine Bonuskarte nicht verfällt. Das nutzt mir allerdings jetzt auch wenig, da ich weder daran denke, noch die Gelegenheit dazu bekommen werde, zurückzubeißen. Meine Gedanken sind nicht zielführend, stelle ich fest, als ich am Ortseingangsschild „Falkensee“ vorbeifahre.

Ziehe Dir die Schuhe erst am Fluss aus.

Ich klingle. Eine eher schmächtige, aber courageuse blickende Mittvierzigerin kommt aus der Veranda und schließt das Gartentor auf. Sie lächelt still, bittet mich hinein. Es ist ein altes Haus, renovierungsbedürftig. Die Veranda ist aus Holz und dient auch als Abstellraum. Gleich vorn steht Bodo breitbeinig auf dem Linoleum. Er starrt zur Wand. Ich bin ich auf alles vorbereitet. Auf alles. Fast alles! Nur darauf nicht, dass Bodo dasteht wie in Stein gemeißelt. Er missachtet mich, muss enorme Schmerzen haben und schaut mich nicht einmal aus dem Augenwinkel an. Jetzt bin ich irritiert. Zwar hatte ich keinen Plan, aber der wäre auch nichts wert gewesen.

Da fällt mir noch ein Spruch ein. Dieses Mal von meiner Mutter, den sie immer vor Prüfungen abgespult hat: „Ziehe Dir die Schuhe erst am Fluss aus.“ Chinesische Weisheit. Damals fand ich es immer übertrieben neunmalklug und genutzt hat es auch erst nach den Prüfungen etwas.  Da wusste man, dass der Spruch richtig war. Vor den Prüfungen war die Aufregung, die Angst vor blöden Fragen, menschlichem Versagen oder einfach nur stressbedingter Demenz größer, als jede vernünftige Überlegung – auch weiser chinesischer Philosophie. Jetzt nutzt der Spruch mir auch wieder, aber eben erst danach.

Kommt das dicke Ende noch?

Frau Feith steht am Kopf ihres ehemaligen Rüden und tätschelt seinen Kopf während ich eine Nadel in den Hodensack stecke um die Abzessflüssigkeit abzuziehen. Sie ist alleinerziehend, sagt sie und fängt meinen fragenden Blick. Alleinerziehend bei dem Hund? Frau Feith lächelt, dieses Mal schüchtern, belustigt. Die Tochter schläft. Mara hängt sehr an Bodo. Und umgekehrt. Bodo würde Mara nie etwas tun. Er liebt das Mädchen, lässt sich von ihr am Schwanz ziehen, die Ohren umknicken und Mara darf sich auch auf ihn setzen, wenn Bodo auf seiner Decke in der Veranda liegt. Die schmächtige Frau hat ihre Hände unter das Lederhalsband von Bodo geschoben. Dieses „alleinerziehend“ scheint viel weniger eine Aufforderung, weniger eine Offenbarung, als eine Entschuldigung zu sein. Frau Feith will mir sagen, dass es ihr leidtut, dass kein Mann ihren Hund festhalten kann.

Mein Blick wechselte von der sich mit Blut und Eiter füllenden Spritze zum Vorderteil des Tieres, das völlig unbewegt und scheinbar unbeeindruckt alles mit sich machen lässt. Kommt das dicke Ende noch? Doch ungestört spüle ich, bedenke Bodo mit einer Antibiose und mit einem potenten schmerz- und entzündungshemmenden Mittel.

Manche Nächte sind kurz

Inzwischen ist es fast hell draußen. Und auch ich fühlte mich ein wenig wie neugeboren. Das schwache Innenlicht der Veranda wirkt noch schwächer, als die ersten Sonnenstrahlen zu sehen sind. Meine „Bedenken“ im Auto sind plötzlich so lächerlich. Freundschaftlich tätschele ich die Flanke des Tieres. Bodo grunzt leicht. Für mich schwer zu übersetzen. Vielleicht: „Mach, das du fortkommst!“, vielleicht: „Hat ja doch nicht so weh getan, wie ich dachte.“ oder schlicht „Danke.“ Keine Ahnung. Jedenfalls ist Bodo der schwerste Hund, den ich je behandelt habe und einer der Liebsten geblieben. „Der ist doch ganz lieb.“ Rutscht es mir über die Lippen. Frau Feith lächelt: „Die einen sagen so, die anderen so.“ Schon wieder so ein Spruch, denke ich und bin nicht undankbar meine Sachen wieder einpacken zu können.

An der Tür schaut sie mir einen Moment nach und nickt leicht mit dem Kopf. Gleich wird Mara aufwachen, denke ich. Kinder sind immer früh aus den Federn. Jetzt, erst in der Erinnerung, fallen mir die dunklen Augenränder auf, den Frau Feith hatte. Das Kind abends ins Bett gebracht, sich um den Hund gesorgt, überlegt ob das Geld für den Nottierarzt reicht, das Kind noch einmal zugedeckt, die Nachtlampe im Kinderzimmer ausgemacht, den Tierarzt gerufen und auf ihn gewartet. Manche Nächte sind kurz. Diese ist vorbei. Sie steht noch in der Tür, als ich im Auto sitze.

Zwei Tage später ruft mich die Besitzerin dankbar an: „Bodo spielt sogar wieder, frisst wie ein Scheunendrescher und hat sogar schon ein Kilo zugenommen…“ „Aha“ sage ich. „Das ist ja schön!“

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