Sheila.
Herr Tabbert war kurz angebunden am Telefon: Er braucht einen Tierarzt, heute, jetzt. Sein Hund liegt auf dem Fußboden und erstickt. Schäferhund, weiblich, 42kg. Und er fügt hinzu „Das Geld dafür haben wir da.“ Er gibt mir seine Adresse in Hohenschönhausen. Als ich etwa fünfundvierzig Minuten später den Fahrstuhl in den neunten Stock hochfahre, fühle ich mich ein wenig eingeklemmt. Der Fahrstuhl quietscht leicht, an den Aluminiumplatten der Innenverkleidung klebt verschmierter Dreck, auf der anderen Seite hängt eine Plastiktafel mit Werbung in kleinen Quadraten: Die beste Pizza, der schnellste Schlüsseldienst, ein Lampenladen in der Nähe, Supermarktketten, Schmuckläden, Hausmeisterservice, Hundesitter, erotische Dessous.
Wenn man hier nicht wohnen muss, dann wohnt man hier auch nicht
In der Luft hängt kalter Rauch von einem Fahrgast, der seine Zigarette vergessen hatte auszumachen. „Wenn man hier nicht wohnen muss, dann wohnt man hier auch nicht.“ Geht mir durch den Kopf. Der Fahrstuhl hält im fünften Stock. Eine ältere Dame steigt zu und grüßt sehr freundlich. Sie mustert mich vom fünften bis zum neunten Stock. Dann steige ich aus, verabschiede mich und lächele sie an.
Die Klingel an der Wohnungstür schrillt. Es wird sofort geöffnet. Herr Tabbert steht vor mir, in Jogginghosen und T-Shirt. Sein Gesicht ist ernst. Nicht der Anflug eines Lächelns, keine Freundlichkeit. Er ist Mitte fünfzig und wirkt etwas eingefallen. Hinter der Couch höre ich starkes Röcheln. Frau Tabbert steht in der Küchentür wie um Spalier zu bilden. Sie schaut mich an, nickt kurz und schaut dann in die Richtung des Röchelns. Ich stelle meine Koffer ab und gehe zu Sheila, die weder Kraft noch Muße hat mich zu begrüßen. Sie ist selbst zu schwach um den Kopf zu heben. Ihre Atmung geht tief und schnell. Mit jedem Atemzug hebt und senkt sich Brustkorb und Bauch in schmerzhafter Bewegung. Ihre Zunge ist leicht blau und ihre Augen trüb. Wenn es einen Tod gibt, den man sehen kann, Sheila sieht ihn, heute, jetzt.
Herr Tabbert steht neben mir, seine Hände sind tief in der Jogginghose versenkt. Fast drohend schaut er zu mir herunter. „Ist sie vorbehandelt?“ Herr Tabbert schaut mich etwas stumpf an. Ich stelle meine Frage anders: „Nimmt ihr Hund Medikamente?“ Er schüttelt langsam gedehnt den Kopf. Ich kniee vor Sheila mit meinem Stethoskop, höre das dumpfe Herz dröhnend, abgedämpft durch die mit Wasser gefüllte Lunge. Dieses Geräusch ist wie ein Schrei für den Kampf ums Überleben. Jeder dumpfe Schlag ist die Gier nach Leben und die Absage an den Tod. Erst wenn ich aufgebe, dann hast du mich, du kalter Unberührbare. Aber so lange ich noch schlage, schlage ich für das Leben, pumpe ich noch Lebenskraft durch die Adern, sorge ich für dein Fernbleiben.
Ich überprüfe, ob die Luftwege frei sind. Frau Tabbert nähert sich vorsichtig von der anderen Seite, so als gelte es eine Sprengstofffalle zu umgehen, aber die Neugier zur näheren Betrachtung bringt sie so nah sie sich vorwagt.
Wir brauchen keine Urne oder so`n Quatsch
„Nehmen sie sie gleich mit?“ fragt Herr Tabbert in einem brummigen, dunklen Ton. „Wir brauchen keine Urne oder so`n Quatsch. „Wie lange geht das schon so?“ frage ich zurück. „Seit zwei Tagen liegt sie schon so.“ meldet sich Frau Tabbert. „Wir ertragen es einfach nicht mehr. Wir können einfach nicht mehr. Lassen sie sie nicht länger leiden, bitte!“. „Seit zwei Tagen frage ich ungläubig.“ Es ist Vorwurf in meiner Stimme, vielleicht sogar etwas Ärger. „Warum haben sie nicht schon eher angerufen?“ Herr Tabbert verzieht leicht den Mund, so, als wolle er erst nachdenken, ob er auf meine Frage antwortet. „Es ging vorher nicht.“ Presst er kurz hervor. Ich schaue zu Frau Tabbert und messe inzwischen die Temperatur des Tieres.
Wir hatten das Geld dafür nicht cash da und Kreditkarten haben wir… nicht mehr.
Sheila hatte unter sich gemacht. Zwar waren die Exkremente weggemacht worden und zur Sicherheit eine Windel untergelegt, aber der Kot ist tief in das Teppichgewebe eingesunken. Urin dampft mir entgegen. Sheila liegt fast bewusstlos und viel zu beschäftigt mit ihrem Leben zu kämpfen, als dass sie sich um etwas so banales wie die Messung der Temperatur bei ihr kümmern könnte. Herr Tabbert hat noch immer die Hände in den Taschen „Machen sie zuerst eine Narkose?“ „Warum haben sie nicht schon früher einen Tierarzt gerufen?“ bleibe ich hartnäckig. „Haben wir ja“ sagt Frau Tabbert.
Gleich, als es Sheila so schlecht ging. Sie ist umgefallen und lag hier und hat so gehechelt… Bis vorhin hat sie auch so gejault. Ununterbrochen gejault und gewinselt. Wir haben zwei Nächte nicht geschlafen.“ Ihre Stimme bekommt etwas weinerliches, zerbrechliches, was sie aber gleich wieder in den Griff bekommt. „Wir hatten sofort Tierärzte angerufen. Viele.“ „Aber keiner wollte kommen.“ fügt Herr Tabbert hinzu. Es klingt verbittert, was er sagt und seine Hände stoßen tiefer in die Taschen. „Wir hatten das Geld dafür nicht cash da und Kreditkarten haben wir… nicht mehr.“
Wir brauchen einen Tierarzt, haben aber im Moment kein Geld. Wir leben von Hartz Vier
Sheila bekommt sofort eine Beruhigungsspritze, damit die Panik zu ersticken erträglicher wird. Sie bekommt umgehend ein Medikament, dass das Wasser aus der Lunge ausschwemmt und ein pflanzliches Mittel zur Stärkung des Kreislaufes und des Herzens.
Ich brauche aber noch eine Antwort auf meine Frage „Sie haben ihren Hund hier so elend zwei Tage liegen lassen?“ Ich bereue sofort meine leichte Verärgerung in der Stimme und auch die Wortwahl, denn es schwingt etwas Verzweifeltes mit, in dem, was und wie die Tabberts sich zu erklären suchen. „Wir haben gebettelt, dass jemand kommt. Wir haben kein Auto. Mein Mann hatte schon zwei Bandscheibenvorfälle und Sheila wiegt 42 Kilo. Was sollten wir denn machen? Entweder Karte oder Barzahlung, sagten sie alle.“ Herr Tabbert unterbricht seine Frau barsch. „Sie brauchen aber keine Angst zu haben. Wir haben das Geld. Ich hatte nur zwei Tage gebraucht, es zu besorgen.“ „Mich haben sie nicht angerufen.“ sage ich mit etwas vorwurfsvollem Ausdruck. Und durch den Kopf gehen mir die vielen Anrufe, die wir im Notdienst bekommen, die genau das zum Inhalt haben: „Wir brauchen einen Tierarzt, haben aber im Moment kein Geld. Wir leben von Hartz Vier“.
Unbezahlte Rechnungen können die Existenz bedrohen. Von einem Notdienst erwartet man gewöhnlich, dass dieser sehr schnell vor Ort ist, das kranke Tier umfassend, ausreichend und kompetent behandelt. Natürlich möchte man den zu erwartenden Rechnungsbetrag nicht gleich an den Anfang eines Gespräches stellen, bei dem es oft um das Leben eines Tieres geht. In die Sorge der Tierbesitzerin oder des Besitzers platzt die Frage nach der Bezahlung wie ein Rudel Wölfe in eine harmlose Rentierherde.
Wir unterlassen dies. Nicht, weil wir keine bezahlten Rechnungen brauchen, sondern weil wir von der Ehrlichkeit jeden Anrufers ausgehen. Wir unterstellen niemandem unseren Service ausnutzen zu wollen. Schließlich weiß jeder, dass wir davon leben müssen, dass es die „Tierärzte im Notdienst“ nur so lange geben kann, wie sie dafür auch bezahlt werden.
Das ist unser Kompromiss, ein Unausgesprochener. Aber das alles sage ich nicht zu Herrn Tabbert, das alles geht mir nur durch den Kopf. „Warum haben sie mich nicht angerufen?“ wiederhole ich. „Nicht gleich gefunden.“ antwortet er kurz. Sheila hat sich etwas beruhigt. Sie atmet etwas langsamer und wirkt entspannter, aber völlig entkräftet.
„Weil sie uns nicht gleich nach Geld gefragt haben, darum haben wir sie jetzt gerufen. Die anderen wollte ich nicht sehen.“ sagt er. Ich ignoriere die letzten Sätze.
„Das ist ein Anfang“ sage ich. „Ob wir sie dauerhaft stabil bekommen, weiß ich noch nicht. Aber wir sollten es versuchen. Erwarten sie keine Wunder. Sie wird in der nächsten Stunde sehr viel urinieren müssen.“ Frau Tabbert schaut mich ungläubig an „Das war`s?“ Herr Tabbert entlässt seine Hände aus den Hosentaschen. In der rechten Hand hält er, noch ungläubig über das eben gehörte, ein zerquetschtes Bündel Banknoten. Er streckt seinen Arm aus und hält mir die Scheine entgegen. Sie sind etwas feucht. Schweiß. Angst. Anspannung. „Die Medikamente sind leider nicht ganz billig.“ Sage ich. „Aber ohne hat Sheila keine Chance.“
Von Zeit zu Zeit drückt mir ein Tierbesitzer Restmedikamente seines verstorbenen Tieres in die Hand „Falls sie das noch gebrauchen können, Herr Doktor. Mir nutzt das ja gar nix mehr…“ Ich lege diese Präparate dann manchmal in einen Karton. In diesen Karton greife ich jetzt. „Diese Packung ist schon angebrochen, reicht aber für die nächsten zwei Wochen und ist ein Geschenk eines anderen Hundebesitzers, eines ehemaligen Hundesbesitzers.“ Füge ich hinzu. Herr Tabbert schaut mich erst verwundert an, dann versteht er, lächelt nicht, nickt nur.
…und wir sind ein Notdienst für die Nacht und für die Wochenenden
Ich fühle mich schwer und müde. Als ich den Raum verlasse höre ich noch das Atmen von Sheila hinter der Couch. „Rufen sie mich morgen an, dass wir kontrollieren können wie es Sheila geht.“ „Morgen ist aber Sonntag.“ Sagt Frau Tabbert. „Genau“, sage ich, „und wir sind ein Notdienst für die Nacht und für die Wochenenden.“ Ich schaffe es zu lächeln. Auch Frau Tabbert lächelt. Ihr Mann dreht sich etwas weg und geht zu Sheila.
Seine große Gestalt verschwindet hinter der Couch und ich höre nur, wie seine Hand gegen die Flanke von Sheila tätschelt. „Komm schon Mädchen, wir schaffen das, oder?! Du musst noch nicht gehen, hat der Doktor gesagt…“ Dann fällt die Tür ins Schloss. Den Weg mit dem Fahrstuhl nehme ich dieses Mal nicht. Ich gehe ins Treppenhaus und laufe die neun Stockwerke. Ich kann jetzt gerade nicht stehen in den engen Wänden dieses Fahrstuhls, sondern muss mich bewegen, muss mich etwas erschöpfen, die Gedanken freilaufen. Das echowerfende leere Treppenhaus hilft mir dabei und der Weg nach unten ist immer noch zu kurz.
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